Abschied von einer charismatischen Frau

Ein Nachruf von Ursula Hafner-Meister, Nationalrätin (SP) von 1987 bis 1999

Esther Bührers Wahl in den Ständerat im Herbst 1979 war eine Sensation. Als erste Frau und Sozialdemokratin schaffte sie, was vor und nach ihr in unserem Kanton noch keinem SP-Mitglied gelang, nicht einmal dem legendären Walther Bringolf. Im konservativen Stöckli gehörte sie denn auch im doppelten Sinne zu einer kleinen Minderheit. Dank ihrer Eigenständigkeit und Unabhängigkeit liess sie sich von keiner Mehrheit vereinnahmen. Unerschrocken kämpfte sie für soziale Gerechtigkeit, für die Gleichberechtigung der Frauen und für eine intakte Umwelt.

Eigenständigkeit und Unabhängigkeit waren Esther Bührer überaus wichtig – in der Politik wie auch im persönlichen Leben. So bestand sie nach ihrem Schlaganfall im Jahr 1997 darauf, ihren Haushalt weiterhin selbständig zu führen, obwohl sie halbseitig gelähmt und auf einen Rollstuhl angewiesen war. Selbst nach dem Tod ihres Mannes vor dreieinhalb Jahren fand sie eine Hilfe der Spitex überflüssig, obwohl sie damals schon 91 Jahre alt war. Um noch aus eigener Kraft aufstehen zu können, absolvierte sie seit 20 Jahren jeden Morgen das Turnprogramm, das ihr eine Physiotherapeutin verordnet hatte. Aus dem öffentlichen Leben hatte sie sich zwar zurückgezogen; aber sie las weiterhin jeden Tag die Zeitungen, mit unvermindertem Interesse für das Weltgeschehen und für die schweizerische und lokale Politik. Als sie nicht mehr mit ihrem Mann darüber diskutieren konnte, rief sie manchmal an und fragte: «Habt ihr den Artikel von XY schon gelesen? Was sagt ihr dazu?» Sie konnte sich noch immer aufregen oder freuen über politische Äusserungen und Beschlüsse. Und bei unseren monatlichen Abendessen mit ihr ging es immer auch um Politik – nebst den gemeinsamen Erinnerungen, zum Beispiel an unsere abenteuerlichen Velotouren.

Ein harter Schlag war für sie der weitgehende Verlust ihrer Sehkraft nach einer Star-Operation. Sie konnte nur noch mit einer grossen Lupe mühsam das Wichtigste lesen; das schmälerte ihre Teilnahme am Geschehen empfindlich.

Als jedoch am 14.Juni 2019 die Frauen wieder in grosser Zahl demonstrierten, war Esther Bührer mit Vergnügen dabei. Zusammen mit Martina Munz als amtierender und mir als ehemaliger Nationalrätin führte sie im Rollstuhl den Demonstrationszug an. Als sie politisch aktiv wurde, galt noch das alte Eherecht. Der Mann als Oberhaupt der Familie durfte seiner Frau unter anderem verbieten, ausserhalb des Hauses tätig zu sein. Esther Bührer kämpfte dafür, dass Eigenständigkeit und Unabhängigkeit allen Frauen zugestanden wurden. Im Eherecht und in den Sozialversicherungen haben wir das unterdessen weitgehend erreicht. Aber ungerechte Frauenlöhne und die Schwierigkeit, Beruf und Familie unter einen Hut zu bringen, gehören immer noch nicht der Vergangenheit an. Dass nun wieder so viele Frauen jeden Alters auf die Strasse gingen und ohne Verbissenheit fröhlich und humorvoll für ihre Anliegen kämpften, das freute sie ungemein.

Wäre es nach Esther Bührer gegangen, wären wir auch im Umweltschutz schon viel weiter. Als 1983 das Umweltschutzgesetz im Ständerat behandelt wurde, stellte sie ein Dutzend Minderheitsanträge. «Unermüdlich und mit nie erlahmendem Willen meldete sie sich zu Wort. Wo immer sie eine Chance witterte, das Umweltgesetz vielleicht ein bisschen verschärfen zu können, hakte sie ein. Ihre Anliegen trug sie ganz offensichtlich aus innerer Überzeugung vor. Ihre Voten zeugten auch von Sachverstand», schrieb das St.Galler Tagblatt und kommentierte: «So auf den ersten Blick würde man hinter der stets fröhlich-charmanten Schaffhauserin eher eine harmlose Bäuerin als eine kämpferische Intellektuelle vermuten. Doch die studierte Sekundarlehrerin kann kämpfen.» Esther hatte ihre helle Freude am Bild der harmlosen Bäuerin. Mit ihren aufgesteckten weissen Haaren war sie ja auch ausgesprochen fotogen und taugte in keiner Weise als Bürgerschreck, trotz ihrer konsequent sozialdemokratischen Politik.

Wir haben mit Esther Bührer eine charismatische Politikerin verloren, eine Frau mit viel Humor und einem scharfen, wachen Verstand, der sie bis zum Schluss nicht im Stich gelassen hat.