Estelle Revaz: “Wunder sind möglich”

Ihre Wahl in den Nationalrat war eine Sensation: Estelle Revaz, 34, holte für die SP im Kanton Genf einen dritten Sitz. «Dank Enthusiasmus, einer kreativen Kampagne und viel Unterstützung von ganz unterschiedlichen Menschen», sagt sie. Dabei engagiert sich die Cellistin erst seit der Pandemie in der Politik.

Politisiert durch die Pandemie

Damals, ab Frühling 2020, wurden von einem Tag auf den anderen Konzerte untersagt und Engagements storniert. Freischaffenden Künstler:innen wie Estelle Revaz brachen die Einkünfte weg. «Wir standen vor dem Nichts», sagt die Kleinunternehmerin, denn die Politik hatte die Kulturschaffenden vergessen. Die selbständige Cellistin realisierte, dass sie Politik ganz direkt betrifft – und griff zum Telefon. In unzähligen Gesprächen und Briefen schmiedete sie Koalitionen, brachte Ideen ein und schaffte es, führenden Politiker:innen und Drahtzieher:innen, die Situation der 300’000 Kunstschaffenden in der Schweiz darzulegen, sodass entsprechende Massnahmen ergriffen wurden. Wenig erstaunlich wird ihr rundum ausserordentliches Kommunikationstalent attestiert. «Wunder sind möglich», beschreibt sie die Erfahrung rückblickend.

Heute engagiert sie sich im Nationalrat für die Gleichstellung, für taugliche Regeln im Umgang mit Künstlicher Intelligenz und für die soziale Absicherung von Kunstschaffenden, Selbständigen und von Menschen, die von Armut betroffenen sind. In der Sondersession von vergangenem April gelang ihr ein erster Coup: Der Nationalrat nahm ihre Motion an, mit der die Massnahmen zur Bekämpfung von Armut verlängert sowie eine nationale Strategie zu deren Prävention erarbeitet wird.

Wie bringt sie das Doppelleben als Nationalrätin und international erfolgreiche Cellistin mit jährlich bis zu 80 Konzerten unter einen Hut? «Es ist eine Frage von Freude, Disziplin, Schaffenskraft und Organisation», sagt sie lächelnd. Während der Session steht sie um 5 Uhr auf, übt frühmorgens bis um 7.55 Uhr in einem Sitzungszimmer im Bundeshaus. Auch die Mittagspause gilt dem Cello, damit nachmittags und abends genug Zeit für informelle Gespräche und Aperos bleibt, ohne die sich in der Politik keine Mehrheiten schaffen lassen. «Mich motiviert meine Leidenschaft.»

Volle Präsenz

Estelle Revaz gibt alles. Das stellte sie bereits als Jugendliche unter Beweis, als ihre Familie aus beruflichen Gründen aus der Walliser Heimat nach Paris zog. Als sich dort die Möglichkeit einer internationalen Karriere als Cellistin abzeichnete, beendete sie die Schule im Fernunterricht – «Lernern fällt mir leicht» – damit mehr Zeit für die Musik blieb. Auch heute sagt sie über ihr Engagement: «Ich versuche jeden Tag so zu leben, als sei er der Letzte.»

Gibt es in der Politik Parallelen zur Musik? «In der Musik schafft man im Zusammenspiel etwas Schönes, alle bringen sich mit ihrem Instrument ein. In der Politik ist es ganz ähnlich. Am besten klingt es, wenn die Politiker:innen zum Zusammenspiel finden und dennoch bei ihren Werten bleiben.»