Von Cédric Wermuth, Nationalrat und Co-Präsident
Weisst du, wie es ist, wenn die Leiche deiner Schwester wochenlang vor deiner Haustüre liegt? Ich kann es mir nicht vorstellen. Aber ich habe in Butcha in der Ukraine mit Menschen gesprochen, die genau das erlebt haben. Ihre Geschichte ist fast nicht auszuhalten.
Wir durften im Rahmen einer dreitägigen Reise in diesem kleinen Vorort von Kyjiw mit Opfern der grauenhaften Massaker der russischen Armee sprechen. Wir, das sind Farah Rumy (Nationalrätin aus Solothurn), Fabian Molina (Nationalrat aus Zürich) und ich. Gemeinsam haben wir zwischen dem 12. und 16. Februar 2025 drei Tage in Kyjiw verbracht. Der Aufenthalt hat bleibende Eindrücke hinterlassen.
Bereits die Anreise verlief anders als gewohnt. An der polnisch-ukrainischen Grenze stiegen wir in den Nachtzug um. Doch an Schlaf war kaum zu denken. Dreimal wurden unsere Pässe kontrolliert, bevor wir in der Hauptstadt ankamen. Das änderte sich auch in Kyjiw nur wenig. Zweimal pro Nacht weckte uns im Hotel der Drohnenalarm. Dann galt es, schnell fünf Stockwerke runter in den Bunker zu rennen, bis Entwarnung gegeben wurde. Zwar kommen russische Drohnen oder Raketen derzeit nur selten durch den Schutzschild der Ukraine, aber die regelmässigen Unterbrechungen der Nachtruhe sind offensichtlich Teil der Terrorstrategie des Kremls.
Sozialdemokratie: Von allen Seiten unter Druck
Hauptziel unserer Reise war ein Solidaritätsbesuch bei den Genoss:innen der Sozialdemokratischen Plattform (SD-Plattform) in der Ukraine. Die ukrainische Linke steht vor einer dreifachen Herausforderung:
Erstens ist da natürlich der Krieg. Vieles muss im Interesse der Landesverteidigung auf später verschoben werden. Und der Krieg hat eine militarisierende Wirkung auf die Gesellschaft. Militärisches Denken dominiert inzwischen viele Bereiche des gesellschaftlichen und politischen Lebens. Das macht progressive Politik noch schwieriger.
Zweitens hat die SD-Plattform bereits vor dem Krieg gegen die erdrückende Macht der Oligarchen und die neoliberale Politik der Regierung gekämpft. Letztere hat den Krieg leider auch genutzt, um das Arbeitsrecht zu verschlechtern. Oligarchen und westliches Kapital drängen auf Privatisierungen und Erleichterungen für Investitionen. Gleichzeitig führt der Krieg zu einem grösseren Bedürfnis nach sozialer Gerechtigkeit . Viele der zehntausenden Kriegsversehrten und ihre Familien wollen nicht akzeptieren, dass sich ihr Kampf für die Ukraine nicht in einer besseren Lebenssituation niederschlägt.
Drittens wird die SD-Plattform ständig von ihren politischen Gegner:innen diffamiert. Alles «Linke» wird mit der verhassten sowjetischen Vergangenheit in Verbindung gebracht. Nur langsam gelingt es der SD-Plattform, glaubwürdige Positionen in der ukrainischen Debatte zu erarbeiten.
In dieser dreifachen Auseinandersetzung will die SP Schweiz die SD-Plattform unterstützen, weshalb wir vor Ort ein Kooperationsabkommen unterzeichnet haben. In Zukunft wollen wir vermehrt für Veranstaltungen und Bildungsangebote zusammenarbeiten.
Die neue Weltordnung
Mitten in unseren Besuch platzten der irre Auftritt des US-Vizepräsidenten J. D. Vance auf der Münchner Sicherheitskonferenz sowie die ersten verbalen Angriffe von Donald Trump auf den ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski und die Ukraine. Kurz nach unserer Rückkehr machte die amerikanische Regierung dann klar, was ihr Plan ist: Ein Abkommen mit Russland, das die Ukraine dauerhaft in eine Kolonie des US-Imperialismus im Westen und des russischen Imperialismus im Osten spalten würde. Trump setzt damit um, was er und Putin unter einer neuen Weltordnung verstehen: Eine Welt, aufgeteilt in imperiale Einflusssphären, die sich gegenseitig nicht mit lästigen Hinweisen auf Menschenrechte oder Umweltstandards das Leben schwer machen.
Die Aussicht auf einen solchen Diktatfrieden war vor Ort das Thema, wenn wir mit NGOs, Parlamentarier:innen, Parteimitgliedern oder Verterter:innen der Schweizer Botschaft sprachen. Wie es nun weitergehen soll, darüber gibt es unter den Ukrainer:innern ebenso viele unterschiedliche Ansichten wie anderswo. Einig sind sich jedoch alle in der Ablehnung eines ungerechten Friedens zu den Bedingungen Moskaus.