Von Sinem Gökçen, Co-Präsidentin SP Migrant:innen
Es war ein historischer Tag: Am 27. Februar 2025 rief der inhaftierte Gründer der verbotenen Arbeiterpartei PKK, Abdullah Öcalan, die Organisation zur Selbstauflösung auf und forderte die Niederlegung der Waffen. Eine Wende, die kaum jemand für möglich gehalten hätte.
Erste Anzeichen gab es Ende letzten Jahres: Devlet Bahçeli, Vorsitzender der rechtsextremen MHP und bislang einer der schärfsten Gegner eines Friedensprozesses, äusserte sich plötzlich offener. Seine Rhetorik wandelte sich. Umdenken bei den Ultranationalisten? Oder taktisches Kalkül von Erdogans Regime?
Aufbruch und Misstrauen
Im Januar 2025 reisten wir als Delegation der SP Schweiz - bestehend aus den Nationalräten Jon Pult und Fabian Molina sowie mir - in die Türkei. Ziel unserer Reise war der Austausch mit unseren Schwesterparteien DEM und CHP sowie mit Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen (NGO), um uns aus erster Hand über die aktuellen politischen Entwicklungen zu informieren.
Durch die Entwicklungen der letzten Monate hatte sich die politische Dynamik im Land bereits vor unserer Reise verändert und damit auch die Haltung der verschiedenen Akteure. In Ankara und Diyarbakir, beziehungsweise Amed, wie die Stadt auf Kurdisch heisst, trafen wir Vertreter:innen der CHP und der DEM. Die DEM forderte klar eine umfassende Demokratisierung - darunter die Freilassung politischer Gefangener, die Stärkung der kurdischen Selbstverwaltung und den Schutz von Minderheiten - und betonte die Macht von PKK-Chef Öcalan.
Die CHP hingegen verhielt sich zurückhaltend. Das Misstrauen gegenüber der Regierung Erdogan war spürbar und es wurde deutlich, dass die CHP nicht daran glaubt, dass Erdogan wirklich auf Frieden setzt.
Repression nimmt zu
Unsere Gespräche mit Gewerkschaften und NGOs haben die Dimension der Krisen im Land deutlich gemacht: Die Inflation in der Türkei ist rasant gestiegen, die Kaufkraft der Menschen sinkt. Vor allem in den kurdischen Gebieten im Osten des Landes leiden die Menschen doppelt - einerseits unter der wirtschaftlichen Not, andererseits unter der Repression der Regierung: Die Zustände in den Gefängnissen sind unhaltbar, Prozesse sind politisch motiviert, Gewalt gegen Frauen nimmt zu und die Medienfreiheit wurde massiv eingeschränkt.
Die Berichte machten eines deutlich: Während die Regierung in Ankara öffentlich von Frieden spricht, nimmt die Repression gegen Kurden und kritische Stimmen kein Ende. Auch wurden in den letzten Monaten immer wieder Zwangsverwalter für demokratisch gewählte Bürgermeister eingesetzt.
Ein doppeltes Spiel
Handelt es sich um einen Friedensprozess oder um geopolitisches Kalkül? Unserer Meinung nach spielt Erdogan ein doppeltes Spiel. Einerseits will er als Staatsmann in die Geschichte eingehen, der den jahrzehntelangen Kurdenkonflikt beendet hat. Andererseits könnte ihm dieser Schritt die nötige Rückendeckung geben, um seine politische Zukunft durch eine Verfassungsänderung zu sichern.
Klar ist: Echter, dauerhafter Frieden kann nur durch die Stärkung von Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit entstehen. Alles andere bleibt taktisches Manövrieren.