Pia Wildberger
Ortstermin Grenchen: Bei eisigen Temperaturen drängen sich an diesem dunklen Januarabend Dutzende vor dem Absperrband zum Kino Palace. Viele kennen sich, alle haben Taschen mitgebracht – jeden Montag um 18.45 Uhr verteilt das Team vom Verein Restessbar gratis gerettete Lebensmittel von Grossverteilern. Die ersten sind schon seit einer Stunde da, obwohl das Los bestimmt, in welcher Reihenfolge die Menschen Einlass bekommen. Drinnen im Kinoeingang, stapeln die Helfer:innen Kisten mit Broccoli, Brot, Joghurt und Salat auf den Klapptischen. Was darf es sein?
Pia C. hätte gerne Rüebli, Romanesco und Äpfel. Die einwandfreie Ware verschwindet in der Tasche der Rentnerin mit der weiss wattierten Jacke. Weshalb kommt sie her? «Ich habe nur die AHV und Ergänzungsleistungen.» Damit kommt die Witwe nach einem arbeitsreichen Leben nur sehr knapp über die Runden. «Ich habe zwei Kinder aufgezogen und in Heimarbeit stundenweise in der Uhrenindustrie gearbeitet.» Für eine zweite Säule reichte es nie. Sie weiss, was zu tun wäre: «Man müsste auch bei tiefen Pensen in die Pensionskasse einzahlen können. Während der stundenweisen Arbeit habe ich auch hundert Prozent gearbeitet.»
Leben am Minimum
Die Statistik des Bundes spricht eine deutliche Sprache. Pia C. hatte nicht einfach Pech im Leben, und sie ist auch kein Einzelfall. Fast jede fünfte Rentnerin und jeder achte Rentner in der Schweiz lebt in Armut. Ausländer:innen sind stärker betroffen. In dieser Bevölkerungsgruppe gilt jede:r vierte Rentner:in als arm.
Vor dem Kino Palace hören derweil einige in der Runde zu und nicken. Braucht es Überwindung, sich bei der Restessbar in die Schlange zu stellen? «Zuerst kam es mir wie Almosen vor und machte mir grosse Mühe», sagt Cécile K., alleinerziehende Mutter einer 16jährigen Tochter. «Aber hier wird niemand verurteilt. Ich habe das Recht, hier zu sein.»
Viele getrauen sich nicht aufs Amt
Die Sozialhilfequote in der Schweiz ist über die letzten 20 Jahre stabil geblieben und schwankt zwischen 2,9 und 3,3 Prozent. Geschiedene, Alleinerziehende und Ausländer:innen sind häufiger auf Sozialhilfe angewiesen. Doch vier von zehn Menschen, die Anspruch hätten, beziehen die Sozialhilfe nicht, sei es aus Scham oder aus anderen Gründen.
Die Menschen, die vor dem Kino Palace in Grenchen ausharren, schämen sich nicht. Keine zehn Minuten nach Türöffnung sind die Taschen der Leute auf dem Trottoir halbvoll und die Tische im Kinofoyer halbleer. Die Leute greifen ein zweites Mal zu – Salat, Kartoffeln, etwas Süsses von gestern vom Beck. «Wer möchte noch Salat? Artischocken?» ruft ein Helfer in die Menge, und die Taschen öffnen sich. Dann räumen die Helfer:innen drinnen die Tische weg und verstauen die Kisten, die in der drauffolgenden Woche wieder zum Einsatz kommen. Wie immer: Nichts bleibt übrig.
Allein im letzten Jahr hat der Verein Restessbar Grenchen 2750 Kilogramm Lebensmittel gerettet und abgegeben. Jeden Montag stehen 30 bis 60 Menschen vor dem Kino Palace für Grundnahrungsmittel Schlange.
Wahrscheinlichkeit für Sozialhilfe: 19 Prozent
Nicht alle, aber einige von ihnen zählen zu den rund 265’000 Menschen oder 3,1 Prozent der Bevölkerung, die Sozialhilfe beziehen. Davon sind knapp 80 000 Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren. Diese Altersgruppe ist am meisten von Armut betroffen. Werden alle eingerechnet, die AHV oder IV-Ergänzungsleistungen, Alimentenbevorschussung, sowie Wohn- und Familienbeihilfen beziehen, sind 9,3 Prozent der Bevölkerung arm. Die Caritas rechnet mit 745 000 Betroffenen und 1,25 Millionen armutsgefährdeten Personen in der Schweiz. Das Bundesamt für Sozialversicherung beziffert die Wahrscheinlichkeit, dass eine Person einmal im Leben auf Sozialhilfe angewiesen ist, mit 19 Prozent.
Armut kann alle treffen. Leute wie Pia C. und Cécile K. können ein Lied davon singen. Als sich um 19.15 Uhr die Menge vor dem Kino Palace auflöst, freut sich Pia. C. Zum einen über die Lebensmittel, die das Portemonnaie entlasten. Zum anderen: «Jetzt gönnen wir uns einen Kaffee. Wir sitzen ja sonst immer zuhause und kommen nie raus.»
Die Restessbar in Grenchen
Seit drei Jahren holen die Freiwilligen der Restessbar Grenchen jeweils am Montagvormittag bei Grossverteilern, Bäckereien und Gemüsehändlern einwandfreie Lebensmittel ab, die sonst entsorgt würden. Die Freiwilligen retteten so allein im letzten Jahr 2750 Kilogramm Lebensmittel. Oberstes Ziel der Restessbar ist die Vermeidung von Food-Waste. Alle sind als Kund:innen willkommen. «Wir könnten mehrmals wöchentlich Lebensmittel abgeben, der Bedarf wäre vorhanden», ist die Grenchner SP-Gemeinderätin Angela Kummer überzeugt. Sie hat die Initiative zusammen mit der heutigen SP-Nationalrätin Farah Rumy und der Präsidentin der Ortspartei der Grünen ins Leben gerufen.
Du möchtest in deiner Gemeinde selbst eine Restessbar gründen? Hier findest du weiterführende Informationen.