Nach 40 Jahren Neoliberalismus sind wir kaum noch fähig, ausserhalb der Kategorien und des Vokabulars dieser Ideologie zu denken. Ein Beispiel dafür ist das Schimpfwort «Giesskanne» — ein Killer-Argument für jedes verteilungs- und sozialpolitische Projekt. Der Begriff diente den Bürgerlichen und der Rechten in den vergangenen Jahrzehnten dazu, das sogenannte Bedarfsprinzip politisch salonfähig zu machen und es in der Sozialpolitik verstärkt durchzusetzen. 

Von Walter Langenegger

Gemeint ist mit der Giesskanne ein staatlicher Umverteilungsmechanismus, mit dem es vielen westeuropäischen Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg gelang, eine starke Mittelklasse aufzubauen. Doch mit dem Neoliberalismus wurde das Modell diskreditiert. Es sei unsinnig, undifferenziert an alle Gelder zu verteilen und damit auch hohe Einkommen und Vermögende zu subventionieren, so die neoliberale Kritik. Sinnvoller sei das Bedarfsprinzip, das einen gezielten Einsatz der Mittel erlaube, weil es sich an der individuellen Bedürftigkeit orientiere.

Doch was einleuchtend klingt, ist ein Trugschluss. Das Bedarfsprinzip ist keineswegs effizienter als die vielgeschmähte Giesskanne. Im Gegenteil: Richtig angewendet, existiert kein besseres Modell, um sehr gezielt Umverteilung von oben nach unten und zugunsten jener Menschen zu gewährleisten, die es am nötigsten haben. Warum ist das so?

Aufwändiges Bedarfsprinzip 

Zunächst zum Bedarfsprinzip: Dieses sieht vor, dass eine Leistung nur nach individuellen Verhältnissen zugeteilt wird. Doch was als «gezielte Hilfe» daherkommt, ist vor allem ein Sparprogramm. Es geht darum, das Sozialwesen so zu organisieren, dass möglichst wenig Menschen davon Gebrauch machen können. Dies wiederum verursacht viel Bürokratie und Technokratie. Jeder Einzelfall muss geprüft werden, was Infrastruktur, Schulung und Fachpersonal erfordert. Das zeigt sich etwa in der Sozialhilfe: Bevor Leistungen gesprochen werden, braucht es Abklärungen über die Anspruchsberechtigung sowie Kontrollen und nicht selten juristische Verfahren. So fliesst ein beträchtlicher Teil der Gelder nicht an die Bedürftigen, sondern in die Verwaltung und die Missbrauchsprävention. 

Hinzu kommt, dass das Bedarfsprinzip nur bedingt gerecht ist. Dies zum einen, weil viele Entscheide eine Ermessensfrage sind und eine Gleichbehandlung damit nicht garantiert ist. Zum anderen zieht das Bedarfsprinzip willkürliche Grenzen. Beispiel dafür sind die Prämienverbilligungen in der Krankenkasse: Eine geringfügige Änderung im Einkommen kann darüber entscheiden, ob der Anspruch gegeben ist oder nicht und führt oft dazu, dass zwei Personen in sehr ähnlichen Lebensverhältnissen unterschiedlich behandelt werden. Problematisch ist zudem, dass in die Privatsphäre eingegriffen wird, weil die Betroffenen ihre persönlichen Verhältnisse offenlegen müssen. Und sie riskieren, gesellschaftlich stigmatisiert zu werden. 

Umverteilung dank Giesskanne

Sodann zum Giesskannenmodell, das auf dem Gleichheitsprinzip beruht. Die Idee dabei ist, dass alle in einer bestimmten Situation oder Lebensphase die gleiche Leistung erhalten. Dazu müssen zunächst zwar im Vergleich zum Bedarfsprinzip höhere Summen zur Verfügung gestellt werden. Gleichwohl arbeitet das System kostengünstig und gezielt, sofern nebst der Voraussetzung der gleichen Leistung noch zwei weitere Bedingungen erfüllt sind: Es müssen alle ihrem Einkommen entsprechend progressiv oder proportional unplafonierte Beiträge einzahlen. Und es muss gewährleistet sein, dass die Zuschüsse der Einkommenssteuer unterstehen. Sind alle drei Bedingungen eingehalten, ist das System kaum teurer als das Bedarfsprinzip, aber bedeutend effizienter.

Solidarisches Mittragen

Der Grund dafür ist: Zwar erhalten mit der Giesskanne auch jene eine Leistung, die sie gar nicht benötigen, nämlich die oberen und vor allem die sehr hohen Einkommen. Doch diese haben zuvor bereits mehr einbezahlt als die meisten anderen. Und nach Bezug der Leistung müssen sie diese nach einem progressiven Tarif versteuern. Das bedeutet: Je höher das Einkommen ist, desto weniger hat man von der Giesskanne; und je tiefer, desto mehr profitiert man davon, weil man die gleiche Leistung erhält wie alle anderen, aber weniger Beiträge einzahlt und auch weniger Steuern entrichtet. Das funktioniert mit wenig Aufwand und ohne Missbrauch, Kontrolle und Stigmatisierung.

Paradebeispiel AHV 

Ein Paradebeispiel für das Giesskannenmodell ist die AHV. Bei diesem Sozialwerk entrichten alle Erwerbstätigen lohnabhängige AHV-Beiträge, erhalten dann im Alter eine mit einem Minimum bzw. Maximum limitierte AHV-Rente und versteuern diese über die Einkommenssteuer. Auf diese Weise entrichten die hohen Einkommen nicht nur höhere AHV-Beiträge, sondern zahlen wegen der Progression einen Teil der AHV-Rente an den Staat zurück, der damit den Bundesbeitrag an die AHV mitfinanziert. Das Resultat dieser Umverteilung ist, dass heute 92 Prozent aller Rentnerinnen und Rentner mehr AHV-Rentenleistungen erhalten als sie während des Berufslebens einbezahlt haben. Gezielter und einfacher geht es nicht, zumal es nur zwei Voraussetzungen braucht für den AHV-Bezug: die Erreichung des Rentenalters und den Nachweis, mindestens ein Jahr lang AHV einbezahlt zu haben.

CEO zahlt für Raumpflegerin

Ein anderes gutes Beispiel sind die Kinderzulagen. Auch hier gilt der Grundsatz, dass alle den gleichen Zuschuss erhalten, vom Gut- bis zum Geringverdienenden. Die Umverteilung erfolgt, indem der Arbeitgeber für die Kinderzulagen in seinem Betrieb eine Prämie bezogen auf die gesamte Lohnsumme einzahlt. Indirekt führt dies dazu, dass er für den CEO eine höhere Prämie entrichtet als für die Raumpflegerin. Oder anders gesagt: Der CEO zahlt für die Raumpflegerin mit. Und weil die Zulage auch in diesem Fall versteuert werden muss, haben die Gutverdienenden weniger von der Zulage als die mittleren und unteren Lohnklassen. Ähnlich funktionieren auch Erwerbsersatzordnung und Mutterschaftsversicherung: Alle zahlen ihrer Lohnhöhe entsprechend ein und bekommen bei Militärdienst bzw. Mutterschaft die gleiche Leistung, die sie versteuern müssen.

Mittelklasse stärken

Die Beispiele zeigen: Mit der Giesskanne liesse sich die wachsende Ungleichheit stoppen und dafür sorgen, dass vor allem die Mittelklasse nicht weiter unter Druck gerät. Denn sie leidet am meisten unter dem Bedarfsprinzip, weil sie zwar mitzahlt, aber kaum profitiert.

Das lässt sich an den Krankenkassenprämien illustrieren: Diese wurden bis 1994 flächendeckend mit Bundessubventionen verbilligt, womit auch die Prämien der Mittelschicht gesenkt wurden. Die Mittel dafür stammten aus dem Steuerhaushalt, der zu einem überproportionalen Anteil von den hohen Einkommen alimentiert wird. Eine Rückkehr zu diesem System würde die Mittelklasse entlasten und die hohen Einkommen via Einkommenssteuern stärker in die Pflicht nehmen. Damit würde die Umverteilung auf die einzelnen Gruppen und Schichten gezielt und im richtigen Masse stattfinden.

Alle bekommen gleich viel, aber nicht alle müssen gleich viel einzahlen: Würden wir den demokratischen, sozialen Recht- und Dienstleistungsstaat vermehrt nach diesem Prinzip organisieren, hätten wir bedeutend weniger soziale Probleme. Darum wäre es ein Segen für die breite Bevölkerung, wenn das Giesskannenmodell ein Revival erlebte.

Dieser Text ist im Februar 2023 zuerst auf dem Blog von Walter Langenegger erschienen.