Kantonale Mindestlöhne – und wie sie die bürgerliche Parlamentsmehrheit aushebeln will

Welchen Wert hat Rechtsstaatlichkeit? Für die bürgerliche Parlamentsmehrheit offenbar einen geringen. Auf ihren Druck hin hat der Bundesrat Mitte Januar einen Gesetzesentwurf vorgelegt, mit dem auf verfassungswidrige Weise die kantonalen Mindestlöhne ausgehebelt werden sollen. Das ist nicht nur höchst unsozial. Der Fall weist auch bedenkliche Parallelen zu Staaten auf, wo rechte Mehrheiten das Gesetz beugen, wie es ihnen gerade passt.

Von Walter Langenegger

Der Vorgang ist besorgniserregend: Die Landesregierung gibt eine Gesetzesvorlage in die Vernehmlassung, von der sie selbst schreibt, dass sie gegen mehrere Prinzipien der Bundesverfassung verstösst und nicht angenommen werden darf. Konkret sieht der Entwurf vor, dass die Bestimmungen über Mindestlöhne und Lohnvorschriften in allgemeinverbindlich erklärten Gesamtarbeitsverträgen (GAV) künftig dem kantonalen Recht vorgehen. Gefordert hatte dies Ende 2022 eine knappe bürgerliche Mehrheit in beiden Räten aufgrund einer Motion des Mitte-Ständerates Erich Ettlin.

Der Obwaldner Wirtschaftslobbyist vergoss dabei im Parlament Krokodilstränen. Er sei in Sorge um die Sozialpartnerschaft. Diese müsse vor «umstrittenen Eingriffen» geschützt werden. Was er damit meint, sind die geltenden Mindestlöhne in den Kantonen Neuenburg, Jura, Genf, Tessin und Baselstadt sowie die diversen laufenden Bestrebungen in Kantonen und Städten zur Einführung gesetzlicher Lohnvorschriften.

Ein Dorn im Auge

Gesetzliche Mindestlöhne sind der bürgerlichen Mehrheit ein Dorn im Auge. Denn sie schwächen die Position der Arbeitgeber bei den GAV-Verhandlungen gegenüber den Gewerkschaften. Ist ein Mindestlohn gesetzlich festgesetzt, darf er nicht unterschritten werden. Denn auch wenn ein GAV allgemeinverbindlich erklärt wird, so ist er doch kein Gesetz, sondern bleibt ein zwischen privaten Verbänden geschlossener Vertrag. Und damit ist er dem kantonalen Gesetz untergeordnet. Normenhierarchie nennt sich das.

Genau diese Normenhierarchie greift Ettlin an. Er will die kantonalen Mindestlöhne aushebeln, indem GAV-Mindestlöhne künftig die gesetzliche Mindesthöhe in jedem Fall unterschreiten dürfen. Damit wird das kantonale Gesetz zur Farce. Und das wiederum ändert das Kräfteverhältnis der Sozialpartner selbstredend zugunsten der Arbeitgeber.

Mutloser Bundesrat

Doch Ettlins Forderung widerspricht der Schweizer Rechtsordnung. Darum wehrte sich der Bundesrat schon im Parlament gegen die Motion und machte deutlich: Kantonale Mindestlöhne sind per Volksentscheid demokratisch legitimiert und laut Bundesgericht explizit verfassungskonform. Dies nicht zu respektieren heisst, kantonale Souveränität und Legalitätsprinzip zu missachten.

Allerdings, den Mut, die Annahme der Motion zu verweigern, hatte die Landesregierung trotz ihrer klaren Worte dann doch nicht. Statt sich kategorisch auf die Seite der Rechtsordnung zu schlagen, warnt sie nur — und liefert, was von ihr gefordert wurde. Das Resultat: Damit findet nun de facto eine Vernehmlassung über einen offensichtlichen Rechtsbruch statt. Gelingt es nicht, das Vorhaben im Parlament, mittels Referendums oder gerichtlich zu stoppen, so wäre dies ein sozialpolitischer Sündenfall und ein Alarmsignal für den Rechtsstaat. 

Angriff auf Beschäftigte

Was dies sozialpolitisch bedeutete, lässt sich am Beispiel Genf illustrieren. Der Kanton hat vor über drei Jahren einen Mindestlohn von gut 23 Franken eingeführt und damit gute Erfahrungen gemacht. In sieben Tieflohn-Branchen – darunter das Coiffeurgewerbe, das Gastgewerbe oder die Tankstellenshops – verbesserte sich die Einkommenssituation merklich, ohne dass die Arbeitslosigkeit zunahm (siehe Grafik).

Obwohl Genf im Gegensatz zur Waadt seit drei Jahren einen gesetzlichen Mindestlohn kennt, entwickelte sich die Arbeitslosigkeit in beiden Kantonen im Gleichschritt. Damit ist klar: Mindestlöhne führen nicht zu mehr Arbeitslosen, verschaffen aber vielen Menschen einen etwas besseren Lohn. Grafik: SGB

Obsiegt die bürgerliche Mehrheit, werden diese Erfolge zunichte gemacht. Nicht nur könnten die Arbeitgeber in den betroffenen Kantonen die Gewerkschaften wieder stärker unter Druck setzen und die Unternehmen wieder Lohndumping betreiben. Vielmehr unterminierte die bürgerliche Mehrheit damit auch die Realisierung von gesetzlichen Mindestlöhnen in anderen Kantonen und Städten und verhinderte von vorneherein eine bessere Entlöhnung von Arbeitnehmenden in gewerkschaftlich schlecht organisierten Tieflohn-Sektoren.

Alarmzeichen für Rechtsstaat

Ein Alarmsignal für den Rechtsstaat wäre der Rechtsbruch sodann, weil sich damit ein Trend bestätigte, der inzwischen vielerorts zu beobachten ist: Wo rechte Parteien im Vormarsch sind, erodiert die Rechtsstaatlichkeit. In Polen und Ungarn degradierten die PIS und Orbans Partei die Justiz zur Vollzugsgehilfin, in den USA verpolitisierte Trump den obersten Gerichtshof und in Grossbritannien versuchen die Torys derzeit in der Asylpolitik, das Verfassungsgericht auszuhebeln.

Ähnliches geschieht seit dem Vormarsch der Rechtsbürgerlichen und der Rechten auch in der Schweiz. Der Respekt vor Verfassung und Gesetz schwindet, im Grossen wie im Kleinen. Ein drastischer Fall: Bundesrat Rudolf Merz verfälschte Angaben zu den Steuerausfällen im Zusammenhang mit der 2008 knapp angenommenen Unternehmenssteuer-Reform II. Das Bundesgericht bestätigte den Verstoss, doch blieben die Konsequenzen aus. Oder kürzlich im Kanton Bern: Die bürgerliche Mehrheit im Grossen Rat foutierte sich um die Gemeindeautonomie der rot-grünen Städte Bern und Biel und zwang ihnen die Videoüberwachung auf. Die öffentliche Reaktion? Ein Achselzucken.

In die gleiche Richtung geht auch die aufgegleiste Aushöhlung der kantonalen Mindestlöhne. Die meisten bürgerlichen Parlamentarier schoben während der Beratung alle rechtsstaatlichen Einwände beiseite, offenbarten damit eine Herr-im-Haus-Mentalität und waren offenbar überzeugt, dass ihre politische Mehrheit sie legitimiert, das Recht nach ihrem Gusto zu beugen und brechen.

Schweigende Medien

Angesichts dieser Vorgänge im Parlament ist es umso bedenklicher, wie sich die Medien verhalten. Statt den Rechtsbruch anzuklagen, üben sich die Hüter von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Passivität. Nur «Blick», «Watson» und die «Republik» widmeten dem verfassungswidrigen Gesetzesentwurf Mitte Januar ein paar Agenturzeilen. Ansonsten herrschte Schweigen. Was nicht untypisch ist: Wo rechte Mehrheiten marschieren, geraten die Medien in deren Sog und sehen grosszügig über dunkle Flecken hinweg. Düstere Aussichten.

Link zur Vernehmlassung

Dieser Text ist im Januar 2024 zuerst auf dem Blog von Walter Langenegger erschienen.