SP und Gewerkschaften machen Druck: Nach dem Ja in Zürich und Winterthur am 18. Juni 2023 zum Mindestlohn wollen sie entsprechende Initiativen auch in den Städten Bern, Luzern und Schaffhausen lancieren. Gut so! Mindestlöhne sorgen für soziale Gerechtigkeit in der Arbeitswelt. Und: Sie schwächen die Wirtschaft nicht, sondern im Gegenteil, sie stärken sie. Das anerkennt inzwischen auch die Wissenschaft. Umso mehr gilt es, im Kampf gegen Hungerlöhne nicht nachzulassen.

Eigentlich müsste der Mindestlohn in einem modernen und aufgeklärten Land wie der Schweiz eine Selbstverständlichkeit sein. Denn was damit gefordert wird, ist einzig, dass die Arbeit eines Menschen zumindest so zu entlöhnen ist, dass er damit die Grundbedürfnisse für ein anständiges Leben finanzieren kann. Der Mindestlohn ist gleichsam der minimale Gegenwert, den menschliche Arbeit in einer zivilisierten Gesellschaft haben muss.

Wird dies nicht gewährt, ist das Ausbeutung. Der Mensch wird dazu verurteilt, unter seinem Wert zu arbeiten. Wir verweigern ihm damit, sich seinen Lebensunterhalt aus eigener Kraft zu verdienen, stürzen ihn in Not und Elend und entwürdigen ihn, zumal wir uns in unserer Arbeitsgesellschaft in wesentlichem Masse über die Arbeit und den Lohn definieren.

Unwerte Arbeit

Darum ist der Verzicht auf einen Mindestlohn durch nichts zu rechtfertigen – auch nicht damit, dass wir in einer von Nachfrage und Angebot gesteuerten Marktwirtschaft leben. Denn: Der Mensch ist keine Ware. Er hat Grundrechte. Und darum ist auch der Wert seiner Arbeit nur bedingt Verhandlungssache. Die Grenze ist dort zu ziehen, wo die Arbeit nicht mehr zum Leben reicht. Tut sie das nicht, ist sie es nicht wert, dass der Mensch sie ausführt. Das müsste in unserer Gesellschaft die Maxime sein.

Dass sie das nicht ist, hat mit der Wirtschaft und der Wirtschaftswissenschaft zu tun. Ihren Repräsentanten gelang es bis in die jüngste Zeit hinein, von der sozialen und moralischen Frage der Ausbeutung abzulenken, indem sie pseudoökonomisch argumentierten: nämlich, dass der Mindestlohn angeblich Arbeitsplätze vernichtet. Ein Narrativ mit fataler Wirkung: Denn nichts fürchtet unsere Arbeitsgesellschaft mehr als den Jobverlust.

Täter statt Opfer?

Fatal ist dieses Narrativ erstens, weil es das Opfer zum Täter macht: Es unterstellt dem Schwachen, mit seiner Mindestlohn-Forderung dafür verantwortlich zu sein, dass Unternehmen ihre Preise erhöhen, möglicherweise Leute entlassen oder gar schliessen müssen und damit der Gesellschaft schaden. Schuldig sind also jene, die einen anständigen Lohn verlangen und nicht jene, die Hungerlöhne zahlen?

Fatal ist dieses Narrativ zweitens, weil damit der Begriff Arbeit und damit die Tätigkeit an sich in einer abwegigen Art und Weise überhöht und verabsolutiert wird. Jede Arbeit ist nach dieser Lesart immer das einzig erstrebenswerte und allem anderen vorzuziehen – selbst dann, wenn diese Arbeit ausbeuterisch und entwürdigend ist. Arbeit also als gottgegebener, unantastbarer moralisch-gesellschaftlicher Wert, unabhängig davon, wie sehr sie dem Individuum und der Gesellschaft schadet?

Abstrus und abwegig: Das war die bisherige Lehrmeinung! Das hat inzwischen nicht nur die neuere Arbeitsmarktforschung realisiert. Vielmehr zeigt dies auch die Realität in der Schweiz.

Korrektur in der Wissenschaft

Zunächst zur Wissenschaft: Entscheidend war hier die Arbeit des kanadischen Nobelpreisträgers David Card. Er kam 1992 zum Schluss, dass der Mindestlohn kein Jobkiller ist und leitete damit einen Paradigmawechsel ein. Hunderte von Forschenden zogen nach und bestätigten den Befund: Mindestlöhne vermindern Ungleichheit und Armut und haben kaum Auswirkungen auf die Beschäftigung. Einen Schritt weiter gingen 2021 die deutschen Wissenschaftler Tom Krebs und Moritz Drechsel-Grau: Sie wiesen nach, dass die Anhebung des Mindestlohnes in Deutschland auf zwölf Euro nicht nur den Lohn von Millionen in den unteren Lohnsegmenten aufbesserte, sondern auch die Wirtschaftskraft steigerte und zu höheren Steuererträgen führte.

Kollaps fand nicht statt

Sodann zur Schweiz, wo nach dem Volks-Nein zu einem nationalen Mindestlohn 2014 die Kantone Jura, Tessin, Basel-Stadt, Neuenburg und Genf den Alleingang wagten: Sie alle stellen heute fest: Der Wirtschaftskollaps blieb aus. Vielmehr tut der Mindestlohn das, was er tun soll: Menschen zu einem anständigen Leben verhelfen. Das zeigt sich etwa im Kanton Neuenburg: Preissteigerungen fanden nicht statt, ebenso wenig kam es zu Entlassungen; stattdessen gingen die Arbeitslosigkeit und der Bedarf an Sozialhilfe zurück. Ähnliches stellt Genf mit seinem weltweit höchsten Mindestlohn von 24 Franken pro Stunde fest: Über 30’000 Menschen profitieren heute davon, dies ohne negative Auswirkungen.

Geringe Kosten, grosse Wirkung

Weshalb dies so ist, liegt für die moderne Arbeitsmarktforschung auf der Hand: Der Kostenanstieg durch den Mindestlohn ist in den meisten Betrieben im Verhältnis zur gesamten Lohn- und Kostensumme eher gering, wie Michael Siegenthaler, Experte bei der Konjunkturforschungsstelle KOF, im SP-Magazin «Direkt» darlegte. Beispiel Detailhandel: Hier machen die Lohnkosten schätzungsweise ein Fünftel der Gesamtkosten aus. Erhalten die schlecht bezahlten Mitarbeitenden etwas mehr Lohn, so erhöht sich die Gesamtkostensumme nur unwesentlich. Eine Überwälzung auf den Konsumenten lohnt sich daher womöglich nicht. Und wenn doch, ist die Preissteigerung beim Einkauf kaum spürbar.

Alle profitieren

Darüber hinaus stimmen die in den fünf Kantonen gemachten Erfahrungen mit den Befunden der neueren Forschung überein: Mindestlöhne stehen einer modernen Gesellschaft nicht nur aus ethisch-moralischen Gründen gut an, sondern wirken sich in der Regel auch in ökonomischer Hinsicht positiv auf Wirtschaft und Gesellschaft aus.

Das gilt etwa in Bezug auf Kaufkraft und Wirtschaftswachstum. Mindestlöhne verbessern die Kaufkraft der unteren Lohnsegmente und haben zudem eine positive Wirkung auf die knapp darüber liegenden Löhne. Da die höhere Kaufkraft in den tiefen Einkommensklassen nicht aufs Sparkonto, sondern direkt in den Lebensunterhalt fliesst, stimuliert dies die Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen. Und dies wiederum kurbelt die Wirtschaft zusätzlich an.

Gleiches gilt für die Produktivität: Der Mindestlohn trägt dazu bei, sie zu erhöhen. Er zwingt die Unternehmen nämlich, haushälterischer mit der Ressource Arbeit umzugehen, und mit den Mitarbeitenden, die sie haben, mehr und effizienter zu produzieren, indem sie in Technologie und Weiterbildung investieren. Hinzu kommt, dass bessere Löhne die Motivation erhöhen und damit auch Leistungsbereitschaft – was der Produktivität ebenfalls förderlich ist.

Gleichzeitig verringert der Mindestlohn die Abhängigkeit von Sozialleistungen. Wo faire Löhne gezahlt werden, besteht der Anreiz, seinen Lebensunterhalt eigenständig zu bestreiten und auf Sozialhilfe zu verzichten. Das bedeutet: weniger staatliche Lohnzuschüsse, weniger Arbeitsmarktbürokratie, weniger Armutsverwaltung – und weniger Sozialkosten für den Staat.

Hartnäckige Vorurteile

Während diese Fakten heute in den meisten EU-Ländern anerkannt und staatliche Mindestlöhne ein Bestandteil der Wirtschaftsordnung sind, halten sich in der Schweiz die alten Vorurteile hartnäckig. Vorstösse zur Einführungen von Mindestlöhnen scheitern in den Kantonen immer wieder, vielfach schon in den Parlamenten oder dann an der Urne, wie 2018 im Kanton St. Gallen. Und im Bundesparlament plant die bürgerliche Mehrheit derzeit, die geltenden städtischen und kommunalen Mindestlöhne zu übersteuern und zu unterminieren, indem schlechte Löhne weiterhin möglich sein sollen, wenn diese in einem Gesamtarbeitsvertrag (GAV) so festgeschrieben sind.

Bern und Luzern im Fokus

Umso wichtiger sind daher die geplanten Initiativen in den Städten Bern und Luzern. Wenn es SP und Gewerkschaften in diesen Städten gelingt, wie in Zürich und Winterthur stadtweit eine gerechte Lohnuntergrenze durchzusetzen, schwächen sie nicht nur die bürgerliche Mehrheitsposition im Bundeshaus. Sondern sie stärken damit auch die Stellung von Gewerkschaften und Arbeitnehmenden-Organisationen in den GAV-Verhandlungen.

Das wäre wichtig: für die Betroffenen selbst, für die Beschäftigungslage und die Kaufkraft insgesamt – und für eine Politik, deren Fokus darauf liegen muss, dass die Wirtschaft kein Selbstzweck ist, sondern den Menschen zu dienen hat.

Dieser Text ist im Juni 2023 zuerst auf dem Blog von Walter Langenegger erschienen.

Bild: pixabay / Katharina Kammermann